Die Zeichen am Bundeskanzlerplatz stehen auf Neuanfang. 12 Meter tief ist die gewaltige Baugrube, in der die Arbeiten an den Fundamenten die Dimensionen des Büroensembles Neuer Kanzlerplatz bereits grob skizzieren. Nachdem der Bonn-Berlin-Beschluss 1991 dem ehemaligen Regierungsviertel die Existenzgrundlage entzogen hatte, konnte es sich wider Erwarten mit dem UN-Campus, einem internationalen Kongresszentrum, der Museumsmeile und nicht zuletzt als Standort von drei DAX-Konzernen und zahlreichen weiteren Institutionen neu profilieren. Doch bislang fehlte diesem „neuen Bonn“ ein klangvoller Auftakt, eine Willkommensgeste mit durchaus erwünschter Fernwirkung. Schon einmal, 1969, hatte man nach einer Lösung dieser Aufgabe gesucht und am Bundeskanzlerplatz das Bonn-Center errichtet. Es ist kein einfaches Grundstück, die dreieckige Form, die sich durch die Überfahrt eines Autobahnzubringers und eine Bahntrasse ergibt, ist dabei noch eine geringere Herausforderung als die Barrierewirkung dieser beiden stark frequentierten Achsen. Und doch hätte der Ort kaum besser gewählt sein können als diese Spitze.
In dem 2015 ausgelobten zweistufigen Qualifizierungsverfahren überzeugten JSWD mit einer schlüssigen dreiteiligen Gebäudekonstellation um einen 100 Meter hohen Büroturm. Dieses Ensemble erscheint stark genug, um Bezüge zu seinem vielfältigen und verkehrsumtosten Umfeld herzustellen, ohne die Fokussierung auf sein Zentrum zu verlieren. Die Grundrisse der drei sechs- bis siebengeschossigen Baukörper sind in der Form unregelmäßiger Fünfecke geplant, ihre Kanten folgen akkurat den Grundstücksgrenzen, während die Binnenräume sich zum Zentrum hin verjüngen. Das Innere dieses Quartiers ist offen gestaltet und einsehbar; mit Ausnahme der Vorfahrt ist es den Fußgängern vorbehalten. Mit einem großzügigen Grünraum führt das neue Büroquartier die Freiflächen der südlich angrenzenden Wohnbebauung fort, das Grün zieht sich über Pflanzinseln und Solitärbäume in das einladend gestaltete Quartiersinnere.
Die in den einander zugewandten Gebäudeköpfen liegenden Foyers werden schwellenlos über den zentralen Platz erschlossen. Dieser öffentliche Raum scheint in die Foyers hineinzufließen, da die Untersichten und Rückwände der Fassadentypologie entsprechend gestaltet werden.
Die Fassaden der drei fünfeckigen Baukörper sind als außen liegendes Tragwerk aus hellem Stahlbeton konzipiert. Bei gleicher Anmutung liegt technisch bedingt das Tragwerk des Hochhauses auf der Innenseite der Fassade, während die filigrane Struktur aus Glasfaserbeton außen vorgehängt wird. Abhängig vom Standpunkt des Betrachters scheint sich die Netzstruktur der Gebäudehüllen zusammenzuziehen oder aufzuweiten. Jeder Baukörper ist einzeln wahrnehmbar, das Quartier erscheint jedoch als harmonische Einheit.
Das Hochhaus entwickelt sich aus dem großen Ganzen 28 Geschosse in die Höhe, ohne die Hülle zu durchstoßen, und setzt damit das gewünschte Zeichen für den Neubeginn. Rund 4500 Menschen werden ab 2022 am Neuen Kanzlerplatz arbeiten, aber ein Vielfaches davon wird er als Landmarke täglich grüßen.
Die geografische Mitte
Dass ausgerechnet ein leuchtender Mercedes-Stern zu einem Wahrzeichen der kleinen Bundeshauptstadt am Rhein wurde, war bestimmt nicht geplant. So, wie vieles hier nicht oder nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit oder dem Vorbehalt des Provisoriums geplant wurde.
Genau 20 Jahre nach ihrem Dienstantritt als Regierungssitz war die Stadt Bonn durch eine umfangreiche Eingemeindung so angewachsen, dass sich ihr geografischer Mittelpunkt vom historischen Zentrum auf eine Kreuzung an der Grenze zwischen Innenstadt und Regierungsviertel verschob, die damals erst kurze Zeit den Namen Bundeskanzlerplatz trug.
Der geografische Mittelpunkt ist eine Formalie, die im tatsächlichen Leben einer Stadt mal weniger, mal mehr Bedeutung hat. In Bonn war sie 1969 insofern bedeutend, als ebendort das von dem Berliner Architekten Friedrich Wilhelm Garasch entworfene Bonn-Center eröffnet wurde, bestehend aus einem 18-geschossigen Hochhaus, einem fünfgeschossigen Seitenflügel und einer eingeschossigen Ladenzeile. Außer den von Botschaften und Bundestagsfraktionen genutzten Büros und Konferenzräumen wurden hier ein hochklassiges Hotel, ein Restaurant, ein Friseur, ein Supermarkt, Bankfilialen und eine Art Kulturkeller mitgeplant. Die privaten Bauherren boten nun erstmals in dem als Dauerprovisorium sich etablierenden Bundesviertel neben Arbeitsplätzen auch eine Art von Alltagsinfrastruktur.
Das Bonn-Center, in der Literatur auch als Analogie zum Berliner Europa-Center bezeichnet, wurde zu einer modernen Variante des Bonner Stadtzentrums. Dies alles geschah nicht ohne den Hintergedanken, dass sich der mit äußerster Nüchternheit geplante Gebäudekomplex auch nach einem möglichen Ende der Ära als Regierungssitz weiterhin lukrativ nutzen lassen sollte. Der gut 8 Meter hohe Mercedes-Stern auf dem Dach des Bonn-Centers war zunächst nichts weiter als ein Markenzeichen: Leuchtreklame, jedoch äußerst prominent platziert, da Bonn als Bundeshauptstadt ansonsten wenig Zeichenhaftes bot. Allzu einfach war es, in dem in fast jedem Tagesschau-Bericht leuchtenden Stern zugleich ein Symbol für die Wirtschaftskraft der Bonner Republik zu erkennen – was auf gewisse Weise zutraf, denn von Adenauer bis Kohl kam als Kanzlerlimousine keine andere Automarke infrage.
Weniger Bedeutung hatte die geografische Mitte der Stadt, als das Bonn-Center mit dem Auszug des Hotels 1988 erst langsam, mit dem fortschreitenden Umzug der Bundesregierung dann immer deutlicher zu schwächeln begann. Der zunehmende Verkehr machte den Standort zu einer Insel, Verfall und Tristesse stellten seine Funktion infrage. Auch wenn sich der Stern auf dem Dach weiterdrehte – was sich darunter abspielte, machte dem eigentlichen Zentrum der Stadt keine Konkurrenz mehr. Doch in der Bundesstadt, wie Bonn sich ohne parlamentarische Funktionen nennen darf, dauert es, bis Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben werden. Längst war der mitten im ehemaligen Bundesviertel in die Höhe geschossene Post-Tower zum Wahrzeichen der neuen Bonner Geschichte geworden, als das Kölner Unternehmen Art Invest Real Estate das Bonn-Center 2014 aus einem Insolvenzverfahren übernahm. Die aufsehenerregende Sprengung des Komplexes am 19. März 2017 machte schließlich Platz für Neues und bot den Bonnern die Gelegenheit, Abschied zu nehmen von einer längst vergangenen Vergangenheit.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem im Juni 2020 im Jovis Verlag erscheinenden Buch JSWD Ensembles