Am 9. Juni 2021 starb Gottfried Böhm.
Gottfried Böhm war kein Mann der Worte. Von ihm bleiben nicht Texte und Theorien, die sein Werk beschreiben wollen, sondern das, was er geschaffen hat, die rauen, einzigartigen Formen, die von Mut, großen Ideen und einem außergewöhnlichen Gespür für Raum und Material erzählen. Mit seinen 101 Jahren lebte Gottfried Böhm als einer der letzten jener Generation, die das kriegszerstörte Deutschland wieder aufgebaut hat, ihm ein neues, modernes Gesicht gegeben hat. Böhm hat Räume zum Wohnen, und Arbeiten, Feiern und Beten gebaut, die sich von dem Gewohnten zwar radikal unterschieden, die Menschen aber in ihrem Innersten berührten, weil sie – so ist es bis heute – etwas Wesentliches transportieren.
Vielleicht ist es das Archaische, das seinen Bauten innewohnt: die Räume Höhlen, Felsen oder Zelten gleich. Die rauen Wände seiner Bauten möchte man anfassen, den Beton und die Ziegel spüren, Eisen oder Glas. Ganz nahe herangehen. Warten bis das Licht, das durch kleine Öffnungen einfällt, weitergezogen ist und der Blick sich an anderer Stelle verfängt. Hier fühlt man, was gemeint war, erkennt die Ordnung, kann Bilder lesen und Räume und Wege. Während der Mensch, für den Böhm gebaut hat, staunend zum Teil des großen Ganzen wird, bleibt das Auge immer wieder an Kanten, Fugen, Formen hängen. Nicht, weil es provoziert, sondern weil es nach dem Staunen und so wirklich, so gut und schlüssig ist. Für ihn war die Kirche die wesentlichste Form der Baukunst. Der Raum pur wie auch das Material, das durch die Unmöglichkeit der Form geadelt wurde. Und manchmal blieb es auch genau das, was es war: Beton, eine raue, graue Masse.
Vielleicht ist es das Universelle: Das Haus funktioniert wie eine Stadt, die Stadt wie ein Haus. So hatte das vor ihm lange keiner mehr gesehen. Dieser Schlüssel passt für viele seiner Bauten in jedem Maßstab. In Bensberg zum Beispiel, dort nimmt sein Rathaus (1969) den Platz der mittelalterlichen Burg ein, macht aus vielen kleinen Einheiten eine große, stolze Figur, die mit ihren offenen Armen Schutz bietet. Ähnlich auch seine Siedlung in der Neuen Stadt Chorweiler (1974), die bis heute gut funktioniert, während die Utopien anderer längst überschrieben und die Bauten aufgegeben wurden.
Vielleicht ist es aber auch das Direkte: das Baukünstlerische und Analoge, frei von den Zwängen jener Geometrien, die sich nur selbst begründen. Die Begründung lag manchmal vielleicht auch nur in seinen Händen, seinem Gespür für die richtige, die gute Form. Spuren seiner Hände, seiner physischen Arbeit finden sich in vielen seiner Werke. Material liegt offen, unverputzt, Beton und Ziegel sind greifbar, als hätte er sie selbst dort genauso platziert. Die Ausstattungsobjekte für seine Kirchen, Türgriffe, Tabernakel, Fenster stammen aus seiner Hand. Es gibt diese Geschichte, dass er neben den Fenstern für Christi Auferstehung in Köln-Lindenthal (1970) nachts gewacht hat, während sich die Fensterbilder aus Nägeln, Messingstiften und Kunstharz rot und klar zu Wortbildern verfestigten. Aber wir denken hier auch an Neviges, den Mariendom (1968), der bis heute unverrückbar, wie ein Fels aus dem kleinen Städtchen im Bergischen ragt. Um dem fast blinden Kardinal Frings diese Form zu vermitteln, ließ Böhm ihn am Modell erfühlen, was seine Worte nicht auszudrücken vermochten und man verstand sich.
Geboren wurde Gottfried Böhm am 23. Januar 1921 in Offenbach. Sein Werden und Wirken ist aber so eng mit der Domstadt verbunden, dass viele ihn für einen Kölner halten. Doch erst nach dem Krieg und dem Architekturstudium in München rief ihn der Vater zu seinem ersten Auftrag nach Köln. Eine kleine Kalksteinmadonna hatte die Bomben und Brände unbeschadet überstanden, ihr zu Ehren sollte in den Trümmern der Pfarrkirche St. Kolumba eine kleine Kapelle errichtet werden. Eine Aufgabe, die der große Kirchenbauer Dominikus Böhm gerne seinem Sohn übertrug, den er schon lange – vielleicht schon immer – als seinen Nachfolger betrachtet hatte. Eine Auszeichnung natürlich, aber eine ebensolche Bürde, was wenn er dem Anspruch des Vaters nicht genügen würde? So hatte sich der Sohn zunächst in die Bildhauerei geflüchtet, fand darin schließlich doch noch seinen Zugang zur Architektur und studierte schließlich beide Fächer. Modelle baute er wie Skulpturen, ebenso schließlich das Haus: archaisch, universell, direkt. Und er hatte Mut: sein erstes Projekt, den Raum eben jener kleinen Kapelle Madonna in den Trümmern (1947) formte er mit einer Gewebedecke, das Experiment glückte. Als das Zumthors Kolumbamuseum 2007 drohte, die kleine Kapelle zu schlucken, begehrte Böhm auf. Forderte zurecht, den eigenen Eingang beizubehalten. Bis heute ist die kleine, auf dem Trümmerfeld errichtete Kapelle, die so voller Ideen, voller Kraft und Spiritualität steckt, einer der schönsten Andachtssorte in Köln.
Kirchen, immer wieder baute er Kirchen, wie der Vater. Die Zeit, in der die Architekten die Kirchen neu erfanden, war seine Zeit. Es scheint fast zu banal an dieser Stelle Zahlen zu nennen, wieviel Kirchen Gottfried Böhm gebaut hat, jede der fast 70 Stätten erzählt ihre eigene Geschichte und doch ist es auch die Quantität des Oeuvres, die ihn als Architekten auszeichnet. Dabei war Gottfried Böhm nicht einmal extrem fromm, gläubig sicherlich. Aber doch so gefestigt darin, dass er ohne Angst Konventionen hinterfragen und noch vor dem 2. Vatikanischen Konzil Neues wagen konnte.
Viele sagten, Gottfried Böhm habe keinen Stil und die, die das als Kompliment meinen, verweisen auf seine Handschrift, die seine Architektur von anderen unterscheide. Böhm ließ sich inspirieren, aber er folgte keiner Mode, seine Bauten waren und sind den gängigen -ismen nur schwer zuordnen. Was wir heute als Brutalismus feiern, war damals vor allem unfassbar. Dennoch war Gottfried Böhm der erste und lange auch der einzige Deutsche, der für seine Arbeit mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. Die Auszeichnung bekam er 1986 im Alter von 65 Jahren und sie gab ihm endlich die lange schon fällige Bestätigung. Damals hatte er sein Lebenswerk bereits geschaffen, geruht hat er seitdem nicht, hat weiter gebaut, gelehrt, gezeichnet und sich eingemischt in die kleinen und großen Fragen des Planens und Bauens in dem Büro, in dem längst die Söhne ihre eigenen Chefs sind. Jeden Tag, sofern seine Gesundheit es zuließ, traf er gegen zehn in dem vom Vater gebauten Büro-Stammsitz in Marienburg ein. Dort saß er mit einer Tasse Kaffee im Erker des Besprechungsraumes, von dem aus sich das Geschehen in Haus und Garten gut überblicken ließ. Die ganz großen Stadtvisionen, an denen er unermüdlich gearbeitet hatte, weil er die Beschäftigung brauchte, hat er irgendwann doch beendet.
Wenn man Gottfried Böhm traf, wurde schnell klar, dass man nie man nur über den einen Böhm sprechen kann, ohne nicht den Vater, den Sohn, den Bruder und auch die Ehefrau und die Mutter zu erwähnen, so also auch an dieser Stelle. Die große Geschichte hat der Film “Die Böhms – Architektur einer Familie“ aufgezeichnet. Ist das das Geheimnis ihres Erfolges? „Es ist nett, wenn Sie das so sehen“, sagt Böhm kurz vor seinem 99. Geburtstag. Paul Böhm stimmte zu, die Rollen im Privaten und Beruflichen seien schwer zu trennen. Wobei man insbesondere den Einfluss seiner Mutter auf die Arbeit des Vaters nicht unterschätzen solle. Dennoch, „der Boss“ war er, so hatte sich das einfach etabliert. Gottfried Böhm wird im Kreise seiner Familie sehr fehlen, aber auch die globale Architekturfamilie trauert um einen ganz Großen, einen Menschen voller Mut, der Sachen in die Hand nahm, um etwas zu machen.