Lernen braucht Perspektiven: Bildungslandschaft Altstadt Nord in Köln

Vierzehn Jahre, das ist lang, auch für einen Schulbau, auch in Köln. Doch die Bildungslandschaft Altstadt Nord ist ein Pilotprojekt der Pädagogischen Architektur, mit dem die Richtlinien des Schulbaus und die Grenzen des Möglichen immer wieder neu ausgelotet wurden. Ein Besuch auf der (immer noch) Baustelle der Bildungslandschaft wird zur Spurensuche – während zahlreicher Begehungen und Stadtspaziergänge.

Die Bildungslandschaft Altstadt Nord (BAN) ist ein Projekt, das ich beobachte, seit 2006 der Kölner Schulausschuss die Verwaltung beauftragt hatte zu- künftig »Kinderhäuser statt Schulkasernen« zu bauen. Das klang so nachdrücklich, dass grundlegende Veränderung unausweichlich schien. Und tatsächlich hat sich vieles verändert, in dem Verständnis von Schule, in den Richtlinien zum Schulbau und auch mitten in Köln, wo mit der BAN schließlich Pädagogische Architektur gebaut wurde. Die Montag Stiftungen waren intensiv an diesem Prozess beteiligt und haben 2012 das Handbuch »Schulen planen und bauen Grundlagen und Prozesse« [1] herausgegeben. Der schlichte Titel lässt nicht anklingen, wie deutlich sich die Inhalte von dem unterscheiden, was sonst noch üblich ist. Heute, wo die Theorie der Bildungslandschaft steht, die Praxis aber noch etwas mit der Haustechnik hadert, bietet sich eine vergleichende Betrachtung mit den zehn im Buch formulierten an. Gemäß der zugrundeliegenden Theorie sind die Forderungen sowohl pädagogisch als auch architektonisch/stadträumlich umzusetzen, wobei das Gelingen erst im Zusammenspiel möglich wird. Worin zeigt sich nun also der pädagogische Mehrwert in der Architektur der BAN?

LERNEN BENÖTIGT UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN

Am westlichen Rand des Klingelpützparks steht eine Gruppe warmgrau verklinkerter Neubauten mit auffällig großen Fenstern. Mittendrin ein Altbau an dessen Köpfen buntes Glas durch filigranes Betonmaßwerk scheint. Dass es sich hierbei um Schulbauten handelt, müssen wir erst lernen, es fehlen die Elemente der Ordnung, die die Schule gemeinhin als Schule erkenntlich machen. Wo ist der Schulhof, der Lehrerparkplatz, die Klassenräume, die Mensa? Auch zeigt das homogene Bild nicht, dass es sich um einen Zusammenschluss aus Kita, Grundschule, Realschule mit einem gemeinsam genutzten Studien- haus handelt. Und dass zu dieser Gemeinschaft, in der einmal 2200 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden sollen, auch noch ein Abendgymnasium, zwei Jugendeinrichtungen, ein Gymnasium sowie eine Mensa und Werkateliers gehören.

Lange bevor die Architektur zum Thema wurde, erörterten die Beteiligten in einem wissenschaftlich begleiteten Prozess ihre Bedürfnisse und Bedingungen. Entscheidend war dabei, dass die Pädagogen nicht schon von Beginn an in Räumen gedacht haben, sondern in Aktivitäten und Abläufen. Manifestiert in einer 107-seitigen Auslobung, bekamen die Architekten des 2013 ausgelobten Wettbewerbs eine sehr präzise formulierte Aufgabenstellung. Überzeugen konnte das Team von gernot schulz : architektur (Köln) und Topotek 1 (Berlin). Und ganz wörtlich sind es die Perspektiven, die Durchblicke, Einblicke und Öffnungen, die die Betrachtung und die Vorstellung des Schulalltags hier so reizvoll anders machen.

VERZAHNT MIT DER STADT

Wenn die Bauzäune einmal abgeräumt sind, werden große Teile des Schulgeländes durchlässig sein. Schnurbaume und wilder Wein sind gepflanzt, Lichtmasten aufgestellt, eine helle Beschichtung des Asphalts wird die stadt-öffentlichen Bereiche von den schul-öffentlichen unterscheiden. Mit ihrer Öffnung zum Park gewinnt die BAN wertvolle Fläche. Ein, in der großen Zahl der Schüler rechnerisch entsprechender Schulhof, wäre auf dem innerstädtischen Grundstück nicht realisierbar gewesen. Um zu solch einer Lösung zu kommen, brauchte es Offenheit auf allen Seiten, bei der Verwaltung, den Schulen, aber auch bei den Anwohnern.

Die BAN zeigt ein neues Bild von Schule, vielleicht sogar ein neues Bild unserer Gesellschaft. Gernot Schulz entwarf die Schulen als Konstellationen unregelmäßiger Fünfecke. Zwischen den Gebäuden entsteht ein durchlässiges Netz aus Gassen und Aufweitungen, das die Schulbauten untereinander sowie
mit Stadt und Park verknüpft. Das von allen Einrichtungen genutzte Studienhaus übernimmt in dieser dichten quasi altstädtischen Struktur die zentrale Rolle eines Marktplatzes. Aus der Fußgängerperspektive erschließt sich die Geometrie des Lageplans nicht, aber sie funktioniert – im Großen draußen,
wie auch im Kleinen drinnen – alle sind einander zugewandt.

LEBENSRAUM SCHULE

Die BAN versteht sich als Lebensraum, in dem die Schüler sich frei bewegen, Anlaufstellen für alle sind Mensa und Studienhaus. Dessen fünf Fronten bilden im dichten Gefüge immer wieder einen point de vue. Im EG und im 1. OG liegt die zentrale Bibliothek mit Selbstlernzentrum. Eine großzügige Treppe mit hölzernen Sitzstufen verbindet die beiden Etagen, die darunterliegende fünfeckige Sitznische schafft einen eigenen offenen Bereich für die kleineren Kinder. Das 2. OG kann im Ganzen genutzt oder temporär in Seminar- und Prüfungsräume unterteilt werden. Es überrascht, wie großzügig die Räume, wie vielfältig die möglichen Nutzungen sind, und wie wenig Wände es brauchte, um sie zu gliedern.

Die Schulen des Verbands haben den Frontalunterricht im Klassenverband weitgehend durch aktives und selbstständiges Lernen im Cluster ersetzt. Die dadurch erzeugte Dynamik erfordert flexible Raumkonstellationen und verschleift die Grenzen zwischen Unterrichts- und Aufenthaltsbereichen. Karl Hell, Architekt des denkmalgeschützen Grundschulgebäudes, hatte schon Ende der 50er Jahre mit einer an den Kindern orientierten Maßstäblichkeit und Materialwahl reformierten Schulbau betrieben, sodass sich die multi- funktionale Aula/Eingangshalle und der schmetterlingsflügelartig angeschlossene Klassentrakt überraschend leicht den Ansprüchen der pädagogischen Architektur der Célestin-Freinet-Grundschule anpassen und mit einer fünfeckigen Erweiterung fortschreiben ließen.

Die viergeschossige Realschule am Rhein besteht im Plan aus drei Fünfecken, die das große Volumen kleinteiliger erscheinen lassen. Der mittlere Baukörper öffnet sich sowohl zum Campus als auch zum Park, der Raum dazwischen macht als Pausenhalle/Auditorium viele Nutzungen denkbar. In den Etagen darüber sind die Lern- und Unterrichtsraume jahrgangsweise zu einer (farblich) identifizierbaren Einheit zusammenfasst. Sämtliche räumlichen Voraussetzungen für die unterschiedlichen Lernformen werden darin erfüllt. Besondere Cluster werden jeweils für Musik, Kunst oder Naturwissenschaften gebildet.

Was für die Großen gilt, finden auch die Kita-Kinder auf ihren Maßstab verkleinert vor. Eine Kette aus fünf Fünfecken bildet den Grundriss des zweigeschossigen Gebäudes, das die dem Park zugewandte Spielfläche wie eine Spange fasst. Als Erweiterung der Freiflächen wurden die Dächer der eingeschossigen Kopfbauten zu Spielterrassen ausgebaut. Auch die vier Gruppenbereiche hier sind als dynamische Raumfolgen konzipiert, rechte Winkel gibt es nur dort, wo Bäder, WCs oder Aufzüge eingestellt wurden. Verstehen muss man den Plan nicht, wer den Weg zurück in die Gruppe sucht, folgt der Farbe.

KLARES MATERIAL- UND FARBKONZEPT

Der BAN fehlt die strenge Ordnung konventioneller Schulbauten. Fenster liegen da, wo sie in den Räumen Sinn ergeben, nicht da, wo das Raster der Fassade sie will. Brüstungen sind niedrig, Rein- und Rausschauen ist überall möglich. War es früher verboten auf den Fensterbänken und Treppen zu sitzen, ist es hier Programm, sich Plätze zu suchen, sie zu probieren. Denn Klinker, Lärchenholz und Sichtbeton sind solide. Vieles in der BAN wirkt frei gestaltet und doch stellten die Architekten im Entwurf viele Regeln auf. Z.B. im Umgang mit Farbe: Während außen das Material die Ansichten bestimmt, wurden alle Trockenbauwände mit eingebautem Mobiliar und Fensterrahmen farbig gestrichen. Es gibt sechs aufeinander abgestimmte Töne – Grün (hell/dunkel), Blau (hell/dunkel), Orange und Brombeer – abgeleitet aus Le Corbusiers Farbklaviatur, die jeweils einer Etage zugeordnet wurden, die Farbe des EGs ist die Farbe des Treppengeländers. Alle Bedienelemente, Hinweise und Fußleisten sind einheitlich schwarz, um mit dem größtmöglichen Kontrast zum Untergrund Barrierefreiheit zu gewährleisten. Indem die Architekten selbst Regeln aufgestellt haben, konnten sie sich, so scheint es heute, anderen funktionalen Zwängen entziehen.

Die großen Fenster lassen viel Tageslicht hinein, farbige Rollos schützen vor Überhitzung, durch die Lamellenfenster kann gefahrlos gelüftet werden – technische Unterstützung steckt gut verborgen in den Decken. Die BAN zu einem zertifizierten grünen Gebäude zu machen, stand bei der Planung nie im Vordergrund, wohl aber zeigt sie sich insbesondere durch die Nutzung der Synergien im Umgang mit Raum und Ressourcen verantwortungsbewusst. Der Schulalltag erscheint oft starr in Anbetracht der Menge des Stoffs, der den Schülern in immer zu kurzer Zeit vermittelt werden muss. Dass sich vieles ändern kann, wenn es sich ändern muss, hat die Praxis nach den coronabedingten Schulschließungen gezeigt. Vieles geht plötzlich, wenn die Situation die Bereitschaft zum Wandel erfordert. Auch davon können wir alle lernen.

{ [1] Schulen planen und bauen Grundlagen und Prozesse, Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Bonn, Montag Stiftung Urbane Räume, Bonn (Hg.), Jovis Verlag, Berlin 2012, Überarbeitet 2017: Schulen planen und bauen 2.0 Grundlagen, Prozesse, Projekte

Dieser Beitrag erschien in der db 06 2020