Achtung: Meine Kleidung könnte schmutzig werden, ich könnte stolpern oder mich stoßen, ich könnte Beklemmungen kriegen oder Angstzustände, die Orientierung verlieren, möglicherweise gesundheitliche Beeinträchtigungen davontragen. Das klingt sehr vielversprechend für eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle. Ich möchte Gregor Schneiders Wand vor Wand besuchen, doch dann die Entwarnung: Sollte ich das eine oder andrer Problem bekommen, ich könne mich jederzeit an die Aufsichtspersonen wenden, sie seien mit Taschenlampen ausgestattet und würden im Notfall eine Fluchttür öffnen. Ein Kompromiss also, ein Zugeständnis der Institution. Der Künstler allerdings macht keine Kompromisse.
Ganz grob umrissen könnte man sagen, Gregor Schneider sammelt Räume. Seit dreißig Jahren trägt er sie zusammen, baut sie auf, baut sie nach, zerstört sie und löst sie aus ihrem Kontext. Fast immer sind es gewöhnliche Räume, Zimmer mit denen er, so sein Kurator Ulrich Loock, „an einige der empfindlichsten Schmerzpunkte der Gesellschaft rührt“. Für die Bundeskunsthalle hat er einen Parcours aus 20 Räumen entwickelt. Dass es tatsächlich 20 sind entnehme ich dem Pressetext, denn wie angekündigt verliere ich, je tiefer ich in das Dunkel seiner Konstellation vordringe, erst die Orientierung, und taumle dann aufgeladen mit einer Mischung aus Angst und Neugier vom Dunkel ins Helle, vom Kalten ins Warme, krieche durch ein Rohr und einen Schrank, verzweifle an Türgriffen und versuche weniger zu atmen, weil die Luft nicht gut ist. Ich bin ein Opfer der Kunst, spiele das schmerzhafte Spiel des Sich-Verlierens mit und bin am Ende ein wenig mehr berührt denn erleichtert, als ich feststelle, wir sind noch immer im Museum, der Boden ist sicher, das Licht kontrolliert und die Räume klimatisiert. Selten war eine Ausstellung so Anti-White-Cube wie diese.
Wand vor Wand bezieht sich auf Schneiders erste architektonische Intervention im Haus u r, einem Haus in der Unterheydener Straße in Mönchengladbach-Rheydt, in dem der damals Sechzehnjährige begann Räume in Räumen zu verdoppeln, Decken und Böden zu motorisieren und Zugänge abzuschneiden. Das Thema wie auch das Haus hat er weiterentwickelt, sein Totes Haus u r, das er 2001 zur Biennale in Venedig im Deutschen Pavillon aufgebaut hatte, wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. So kennt man Schneiders Werk oder glaubt es zu kennen. Die Bonner Schau hat er chronologisch angelegt, doch auch in seinem jüngsten Werk, das er an den Anfang gestellt hat, steckt etwas von Haus u r, dessen Keller und Straßenabschnitt. Kolkata Goddess, ist ein Tempelbau samt Göttinnen, den er 2011 für das Durga-Purja-Festival in Kolkata realisierte. Vier Millionen Pilger strömten durch das Loch des um 90° gedrehten Kellers, der mit einem 30 Meter hohen Straßennachbau aus Lehm, Holz und Bambus zum Heiligtum wurde. Als Teil der rituellen Handlung wurde all das schließlich in den Fluss verabschiedet. Für Schneider nicht unvertraut: „Da habe ich meine eigene Arbeitsweise entdeckt … ich nehme es mit, baue es auf, schleppe es wieder herunter.“ Weshalb er die Überreste seiner Arbeit am nächsten Tag geborgen hat, um sie wieder zurück nach Rheyd und nun nach Bonn zu transportieren. Verstümmelte Strohpuppen sehen wir und riechen wir, hinter ihnen laufen drei Projektionen des Festivals, schrill bunte, unzensierte Filme, schnelle Schwenks, alles irgendwie unaufhaltsam, schwindelerregend, kaum möglich danach die unheimliche Stille der sterbenden Dörfer im Einzugsgebiet des niederrheinischen Braunkohletagebaus zu verstehen. Die Hauptstraße, Garzweiler 2008 war damals schon tot, heute gibt es sie nicht mehr. Hinter einer im Dunkel liegenden Tür beginnt die Kette der Räume, deren unmittelbares Nacheinander eine ganz andere Lesart jedes einzelnen erbittet.
Die unheimliche Stille der Hauptstraße wird weitergeführt in einem Gang, hochglänzende Wände, Schiebetüren in dunklem Rot, der Boden – man riecht es – Linoleum, die Decke um die gleißenden Leuchten schallisoliert. Passageway Nr. 1 heißt die Arbeit, die einen Zellentrakt aus Guantanamo abbildet, so wie die, die lebend dort herausgekommenen sind, ihn beschrieben haben. Die Instrumente der Weißen Folter, die äußerlich keine Spuren hinterlassen, sind hier nicht sichtbar, doch spürbar, wie auch in den folgenden Räumen, Nasszelle und kalter Lagerraum. Und plötzlich wird auch eine Garage unheimlich, weil hier ein Alkoholiker einsam und heimlich gesoffen hat? Dann ein Badezimmer mit laufender Dusche, ein Kinderzimmer ohne Kindliches, muffige Kellerräume, eine Liebeslaube ohne Liebe und mitten darin der Sterberaum: Zwei Fenster, zwei Türen, Lampen, Parkettboden – ein Nachbau eines Zimmers aus Mies van der Rohes Haus Lange in Krefeld. Ihn sehen wir von außen, aus dem Dunkel, drinnen ist Licht. Als Schneider 2008 den Wunsch geäußert hatte, einen Menschen in einem Ausstellungsraum sterben zu lassen, bekam er Morddrohungen. Hier stirbt niemand, aber allein der Gedanke daran zeigt, dass der Tod nicht, wie Schneider es anregt, aus der Tabuzone herausgerissen werden kann.
Dennoch fühlt sich Wand an Wand an wie eine Tabuzone, Menschen liegen auf dem Boden, von denen zwei echt sein könnten. Alles, was wir hier sehen, in dem wir uns bewegen, sind erschreckende, weil echte Bilder.
Uta Winterhager
Gregor Schneider Wand vor Wand 2. Dezember 2016 bis 19. Februar 2017
Weitere Informationen auf der Seite der Bundeskunsthalle