Ein Gespräch mit Oliver Thill über gesellschaftliche Phänomene, die sich im Wohnungsbau abbilden, den sozialen Aufstieg von Geschosswohnen und den Erfolg der Stadtvilla als generisches Modell.
Wann haben Sie angefangen, über das Wohnen nachzudenken?
Ich bin in der DDR aufgewachsen, wo das Wohnen als Abbild der Gesellschaft ein wesentlicher Bestandteil der politischen Agenda war. Zum Plattenbau habe ich damals eine Art Hassliebe entwickelt. Wenn wir uns neue Wohngebiete angeschaut haben, war ich meist ziemlich desillusioniert. Die Wohnungen wiederum waren oft gut: intelligente Grundrisse mit offener Küche, große Fenster und breite Balkone. André Kempe hat das Thema genauso beschäftigt, es ging um ein reales Problem, dessen Lösung einen kulturpolitischen Hintergrund hat. Jeder wohnt. Man kann nicht keine Meinung zum Wohnen haben, weil man sich auch als Nicht-Architekt andauernd mit dem Thema auseinandersetzt.
Haben Sie denn inzwischen eine Antwort auf die Frage gefunden, wie wir wohnen wollen?
Das ändert sich kontinuierlich. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren klar herausgearbeitet, was wir interessant finden. Doch als Architekten können wir nur in einem begrenzten Maß bestimmen, wie wir als Gesellschaft wohnen wollen. Letztendlich sind es die Auftraggeber, die Banken und die Städte, die über Quantitäten, Eigentumsverhältnisse und Nachbarschaft entscheiden, unsere Beratung stößt da an Grenzen. Wir haben nach wie vor viel Freunde am Wohnbau, auch weil wir in verschiedenen europäischen Ländern tätig sind und das Know-how gerne exportieren. Spannend wird es immer dann, wenn sich neue, oft extreme gesellschaftliche Phänomene im Wohnungsbau abbilden, darüber wird viel zu wenig gesprochen
Auch Ihr 1999 beim Wettbewerb Europan 5 ausgezeichnetes Projekt für Kop van Zuid in Rotterdam zeigte eine Idee für neues Wohnen.
Der Entwurf war eine unmittelbare Reaktion auf das, was wir gesehen haben. Wir haben in den Neunzigern in Holland gearbeitet. Als in Amsterdam die Wohnsiedlung Borneo-Sporenburg durch die Käufer übernommen wurde, haben sie oft alles rausgerissen: Wände, billige Innentüren, Radiatoren, komplette Badezimmer, alles lag auf der Straße. Da erkannten wir, dass man beim Wohnen besser weniger vorbestimmen sollte. Wir müssen die Bedürfnisse von Leuten bedienen, die wir nicht kennen und die in Zeiten leben, von denen wir noch kein klares Bild haben.
Ein Ansatz war, erst einmal über das Gehäuse nachzudenken. Wenn das gut ist, kann man auf sehr unterschiedliche Weise darin wohnen. Damit können wir das Projekt auch etwas den Kräften des Marktes entziehen. Neutralität und Flexibilität erzeugen eine Dynamik, die es erlaubt, viele Zielgruppen und Finanzierungsmodelle zu bedienen. Unsere Aufgabe ist es also, einen Ort mit eindeutigem Charakter und gleichzeitig vielen Freiheiten zu schaffen. In Holland ist diese Diskussion deutlich angeheizter, weil jeder kontinuierlich an seiner „Wohnkarriere“ arbeitet und der Wiederverkaufswert einer Wohnung ein entscheidendes Kriterium ist.
Ihr Europan-Entwurf wurde nicht realisiert, aber auf dem Nachbargrundstück steht jetzt De Rotterdam von Rem Kolhaas, das größte Gebäude der Niederlande. Neben Büros und Hotel gibt es darin auch 240 Wohnungen. Wurde damit der Gegenentwurf zu Ihrem realisiert oder gibt es Gemeinsamkeiten?
Mit den Wohnungen in De Rotterdam wird eine bestimmte Zielgruppe bedient, die relativ anonym und weit weg vom öffentlichen Raum in einem Hochhaus über der Stadt wohnen will.
Dieses Wohnen ohne Nachbarschaft ist aber nicht das, was wir jetzt brauchen …
Als wir studierten, war das Hochhaus ein Tabu, inzwischen wurde diese Sichtweise revidiert. Wir bauen jetzt auch oft in der Vertikalen, es ist vor allem eine Frage der Korngröße und der richtigen Einbindung in den Stadtraum. Ein Wohnhaus muss so entworfen sein, dass soziale Kontakte stimuliert werden. Das kann im Hof passieren, auf der Dachterrasse oder in Gemeinschaftsbereichen. Als Architekt befindet man sich bei dem Thema in einem Dilemma, weil viele Bauherren – vielleicht nicht ganz unberechtigt – Angst vor der Kollektivität haben. Wer übernimmt Verantwortung, wie organisiert man sich, wer trägt die Kosten? Dass in alles gemeinschaftlich Genutzte auch alle investieren müssen, lässt sich manchmal schwer vermitteln.
In Ihrem Essay Wohnung, Haus und Stadt plädieren Sie für die Stadtvilla, die Wohnen mit suburbanen Qualitäten im Stadtkern möglich macht. Wie sind Sie darauf gekommen?
Als generisches Modell ist die Stadtvilla interessant, weil sie die Bedürfnisse der gehobenen Mittelschicht schon immer gut bedient hat. Im 19. Jahrhundert wurde in Dresden der geschlossene Baublock durch ein Modell verhindert, das nur auf der Stadtvilla beruhte. In der Postmoderne hat etwa Rob Krier sie bei der IBA Berlin erfolgreich wiederbelebt. Auch international ist die Stadtvilla ein Erfolgsversprechen, denn sie bietet eine exklusivere Wohnform mit einem geringen Risiko für die Investoren, weil es relativ wenige Einheiten sind, die verkauft werden müssen.
Wer ist die Zielgruppe?
In Belgien haben sich unter anderem konservative Parteien und die katholische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg für die Suburbanisierung stark gemacht, um zu verhindern, dass sich eine proletarische Masse bildet. Dadurch ist rund um die Städte ein gigantischer Teppich aus Einfamilienhäusern entstanden. Deren Besitzer sind inzwischen in Rente, ihre Kinder längst aus dem Haus, und sie stellen fest, wie langweilig das Wohnen in der Vorstadt geworden ist. Sie wollen in die Stadt, aber nicht ständig im Stau stehen. Deshalb suchen sie dort etwas, das ihr komfortables suburbanes Leben reflektiert.
Die Antwort sind in der Regel kompaktere Wohnungen mit sehr großen Außenräumen. Die Zielgruppe für Häuser dieser Art hat in Belgien und in den Niederlanden relativ viel Geld und ist bereit, es für einen gewissen Wohnstandard auszugeben. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Wohnungen mit dreimal so viel Balkonfläche als üblich sich dreimal so schnell verkaufen. Und dass die Leute sehr wohl bereit sind, Geld für eine Natursteinfassade auszugeben, weil sie Beständigkeit und Wert erkennen und weil ihnen der Status wichtig ist.
Ist das der soziale Aufstieg des Geschosswohnungsbaus?
Zweifellos. Sobald ein solches Haus eine besondere Identität anbietet, ist das Interesse da. In Europa ist das Hochhaus inzwischen zu einem Unterscheidungsmerkmal geworden, zu einem Symbol für Exklusivität, das erleben wir auch bei unserem Wohnhochhaus in der Hamburger Hafencity. Noch in den Sechzigerjahren wurden viele Wohnungen für Familien mit Kindern gebaut, inzwischen ist das eine auf dem Wohnungsmarkt eher zu vernachlässigende Gruppe. Der demografische Wandel hat das Wohnen atomisiert, so dass jetzt in zentralen Lagen viele eher kleinere Einheiten gebaut werden, für junge Leute, speziell aber auch für ältere Bewohner und Rentner, eine Gruppe, die immer größer wird und ganz besondere Anforderungen stellt, Barrierefreiheit etwa.
Geht es denn bei dieser Art exklusiver Wohnbauten auch um Gemeinschaft, soll hier Nachbarschaft entstehen?
Bei den beiden Projekten in Hasselt und Vilvoorde spielte das nur indirekt eine Rolle, hier gibt es eher Symbole für Gemeinschaft, wie die edle Eingangshalle oder hochwertig gestaltete Außenbereiche. Auf dem kommerziellen Wohnungsmarkt lässt sich das Gemeinschaftliche schwer vermarkten. Wer würde bei den ohnehin hohen Preisen dafür zehn Prozent mehr zahlen oder auf zehn Prozent seiner Fläche verzichten?
In Amsterdam bauen wir ein Wohnhochhaus mit öffentlich geförderten Wohnungen, da gibt es ein Atrium für alle, einen Gemeinschaftsraum und Dachterrassen. Aus unserer Sicht ist das ein absolutes Novum. Es wird viel über diese Konzepte gesprochen, in der Schweiz gibt es gute Beispiele mit neuen mehr gemeinschaftlichen Wohnformen, doch die Realisierung ist in vielen Ländern äußerst schwierig.
Wo sehen Sie mehr Potenzial für die Zukunft der Stadt: in der extremen Verdichtung der Stadtkerne wie in Hasselt oder in der Urbanisierung der Peripherie wie in Vilvoorde?
Demografische Verschiebungen machen es notwendig, die Stadtzentren nachzuverdichten, wenn die große Gruppe der Rentner nicht am Stadtrand zurückgelassen werden soll. Uns interessieren die komplexen zentralen Standorte, mit kulturell ambitionierten Projekten, wo die Architektur eine zentrale Rolle spielt. Viele Städte in Deutschland wissen nicht, dass sie von Investoren neben Quantität auch Qualität einfordern können. Hamburg geht da vorbildlich vor, das zeigt das Niveau in der Hafencity.
Ist das in den Niederlanden anders?
In Holland gibt es eine relativ ungebrochene modernistische Städtebaukultur. So gelang es, das Niveau auch bei schlechter Marktlage hochzuhalten. Auch gibt es gute Kontrollmechanismen, durch Supervisoren und Schönheitskommissionen. Im niederländisch-sprachigen Teil Belgiens geht es bei der Stadtentwicklung nicht zuletzt auch darum, die flämische Identität zu stärken, ein sehr politisches Thema. Zeitlich deckt sich das mit dem Wunsch vieler, aus den Suburbs in die Städte zurückzukehren und dort einen neuen Anfang zu machen.
Die 17. Ausgabe des Europan ist entschieden. Was können Sie als Preisträger von vor 25 Jahren ihren Nachfolgern mit auf den Weg geben?
Der Europan bietet der Diskussion um Stadtgestaltung und Gesellschaft einen idealen Rahmen. Denn ob man es will oder nicht: Das Realisieren von Architektur ist eine politische Handlung, die Konsequenzen hat, denen muss man sich stellen. In der Ausbildung kommt dieser Aspekt oft zu kurz. Darüber hinaus ist das Wohnen ein superThema für die junge Generation, weil es etwas Bleibendes ist. Wir wissen nicht, ob in dreißig Jahren noch im Büro gearbeitet und in der Universität gelernt wird, ob wir noch in die Kirche gehen oder ins Shoppingcenter. Aber wohnen werden wir ganz sicher noch.
aus Bauwelt 4.2024