Das Philosophikum von Peter Böhm in Münster –
Ein einfaches Regal ist aus Ziegelsteinen und Brettern schnell gebaut – stapeln, füllen, fertig. Das ist natürlich keine Baukunst, aber ein Archetypus. Bei Sanierung und Erweiterung des Philosophikums der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wollte Peter Böhm etwas Sinnvolles machen. Er nahm den Archetypus des Bücherregals und stellte ihn als Bibliothek vor den Altbau. Somit ist Ordnung gegeben, innen wie außen.
2011 hatte Peter Böhm den vom BLB Münster ausgelobten Wettbewerb (Bw. 20.2011) gewonnen. Aus dem übersichtlichen Kreis der 14 Teilnehmer, davon sechs geladene, hob sich die Arbeit des Kölner Büros durch eine kompromisslose aber keineswegs rücksichtslose Haltung ab. Die Aufgabenstellung und das Raumprogramm hatten den Architekten recht freie Hand gelassen, wie der Bestand optimiert und erweitert werden sollte. Böhm entschied sich für ein mutiges Eingreifen, für eine umfassende Neuordnung. Dabei nutzte er das Repertoire der Stadt und schrieb die dort über die Jahrhunderte gewachsene schier endlose Folge von Weite und Enge fort.
Mehr Länge gewagt
Denn auch am Standort des Philosophikums folgt im Rhythmus der Altstadt auf die Weite des Domplatzes eine enge Gasse. An ihr würde man vielleicht vorbeilaufen, würde sie nicht von diesem schmucken neogotischen Kopfbau, dem ehemalige Collegium Ludgerianum flankiert. Das frühere Priesterinternat, das sich hinter dem Kopf auf einem leicht abfallenden Grundstück an der Gartenmauer des Bischöflichen Palais lang und schmal in die Tiefe entwickelte, hatte die WWU Münster in den 60er Jahren von der Kirche gekauft. Doch die Philosophische Fakultät und das Kunsthistorische Institut taten sich schwer mit der Nutzung des denkmalgeschützten Riegels und seiner teilweise abseitigen Hinterhoflage. Auch Böhm hatte die Schwachstellen der Situation offenbar erkannt, doch arbeitete er nicht gegen sie, sondern mit ihnen: den Riegel überzeichnete er mit einem noch schmaleren, noch längeren Gegenüber, den Hof erhob er zum Platz. Enge und Weite also auch hier das Thema.
Neue Hierarchien
Seit der Fertigstellung des Philosophikums im Sommer 2017 führt die schmale Gasse vom Domplatz auf einen kleinen, mit niedrigen Stüfchen sanft abfallenden Platz. Nicht sonderlich wohnlich ist der ausgestattet und muss auch ohne Grün auskommen, doch Symmetrie und Proportion lassen ihn angenehm erscheinen, ob man nun dort verweilt oder nur passiert. Böhm machte die Traufkante des Fürstenberghauses, das den kleinen Platz im Süden fasst, zum Maßstab für die Höhe des Neubaus. Dieser wird damit fünfgeschossig und bleibt mit seiner scharfkantigen Attika deutlich unter der Höhe des bestehenden Seminargebäudes. Respektvoll ist dies sicher nur auf dem Papier, denn aus der Fußgängerperspektive verschwindet der höhere Bau vollständig hinter dem niedrigeren. Dieser Neubau, die Bibliothek, ist sehr lang, sehr schmal und mit 40 Fensterachsen über fünf Geschosse extrem präsent. Dadurch erst wird der frühere Zwischenraum zum Platz.
Doch gehen wir noch einmal zurück zum Archetypus des Regals: Bretter und Steine, stapeln, schichten, füllen. Eigentlich nur das hat auch Böhm hier getan. Wir sehen Träger aus Beton und Pfeiler aus Mauerwerk, einfacher könnte es kaum sein. Die Einfachheit der Konstruktion, die Gewissheit des Rasters erlaubten Böhm Freiheiten bei der Gestaltung der Oberflächen. Während der Sichtbeton scharfkantig und ungeschönt bleibt, liegt über dem Mauerwerk ein Schleier. Der rote Backstein hat im Münsterland Tradition, auch das Bischöfliche Palais (1732), das Fürstenberghaus (1958) und das Theologische Seminar (1960), die Nachbarn des Philosophischen Seminars, zeigen dies im Spiegel der Zeit. Ein heller Sandstein kontrastiert das satte Rot der Ziegel, mal als Sockel, als Laibung, Fries oder Dekor. Böhm wollte nichts Ortsfremdes, sondern auch hier wieder etwas Sinnvolles, blieb also bei dem Bewährten und setzte auf Handwerkskunst um etwas Außergewöhnliches daraus zu machen. So ließ er die Ziegel der Vormauerschale mit einer farblich dem Sandstein nachempfundenen Schlämme aus Kalk-Zement-Mörtel überziehen. Lage, Farbton und Proportion der einzelnen Steine zeichnen sich durch die unterschiedlich stark aufgebrachte Schicht ab ohne jedoch lautstark Tradition! zu proklamieren. Jede Wand des Bibliotheksriegels wurde so behandelt, Innen und Außen sind dadurch nicht zu unterscheiden.
Ordnung durch Unterordnung
Der Eingang in das so erweiterte Philosophikum liegt am niederen Ende des Platzes, in der Fassade nur angezeigt durch fünf ausgelassene Stützen. Die fünf so aufs Doppelte verbreiterten Durchgänge führen durch den Bibliotheksriegel in eine großzügige zweigeschossige Lobby. Neubau und Altbau treffen hier aufeinander, die vollflächige Verglasung der Westwand markiert den Zwischenraum deutlich als Fuge. Hier entscheiden sich die Besucher, nutzen sie die Bibliothek, haben sie einen direkten Zugang, der Altbau mit zahlreichen Büro- und Seminarräumen wird über ein anliegendes Treppenhaus erschlossen und die Studiobühne, ein kleiner zweigeschossiger Annex, der die hier angestammte Institution an fast gleicher Stelle ersetzt, kann von hier aus direkt betreten werden. Das Lärchenholz der Türen ergänzt die geschlämmten Ziegel und den Sichtbeton mit einem warmen Ton. Und weil dieser Dreiklang so harmonisch ist, bleibt es dabei. Auch der Altbau wird mit einer feinen Schicht der lichten Schlämme überzogen. Was darunter ist, bleibt durchaus sichtbar. Wo waren Fenster, wo stand eine Wand, wo trifft eins aufs andere, die Eingriffe der Architekten in die Substanz bleiben nachvollziehbar, doch das Bild vereinheitlicht. Für einige Nutzer waren diese unperfekten Oberflächen jedoch gewöhnungsbedürftig – dass es fertiger nicht werden wird, musste manchem erklärt werden.
Die schwierigste und zugleich spannendste Stelle ist jedoch die schmale, keilförmig spitz zulaufende Fuge zwischen dem Bibliotheksriegel und dem Altbau. Das Gelenk, das die drei Baukörper miteinander verbindet ist das dort bestehende, turmartig gestaltete Treppenhaus, in das neue, den Höhen angepasste Läufe eingefügt wurden. Nutzer und Besucher betreten die Bibliothek jedoch gewöhnlich über das Foyer, wo an der breitesten Stelle der Fuge ein Treppenhaus eingestellt wurde. So wird der Eingang in die Bibliothek an dieser Stelle sehr wirkungsvoll verengt, um nach dem Passieren des Schließfachraumes und der Ausleihstelle mit Höhe und Durchblicken zu überraschen. Das ursprünglich für den Zwischenraum geplante Glasdach wurde nun in Beton ausgeführt, so dass hier eher das Fügen als das Trennen thematisiert wird. Gelungen ist die Variante der Ziegelwand, da hier die Steine an einer Sollbruchstelle halbiert und auf Lücke gesetzt vermauert wurden, um Schall zu schlucken.
Dramatische Hinführung
Böhm nutzte die Länge der Fuge, um bibliotheksseitig zwei gegenläufige Himmelsleitern einzustellen, über die von der Mitte aus die einzelnen Etagen erschlossen werden. Dort kommen Einrichtung und Architektur aufs Beste zusammen. Bündig schließen die drei Meter langen, 60 Zentimeter tiefen Lärchenholzegale an die Pfeiler an, die Breite der Fenster gibt den Nutzern den benötigten Raum dazwischen, die bodentiefe Öffnung viel Tageslicht. Das strenge Raster der Fassade erhält mit der Ordnung der Bibliothek also eine funktionelle Legitimation. Fortgeschrieben wird der Rhythmus auf der fugenseitigen Fassade, wo die Stützenzwischenräume mit hölzernen Lesepulten über einer Glasbrüstung zu Rechercheplätzen ausgebaut wurden. Wer hier von seiner Lektüre aufschaut, blickt je nach Standpunkt über den oder unter dem geschliffenen Beton der Treppenläufe auf die hell geschlämmte Fassade des Altbaus. Böhm ließ dort den Mittelrisalit abreißen und die neuen Fenster flächenbündig einsetzen. Damit war die Hierarchie in der Gestaltung geklärt, der Altbau – nun ohne Gesicht – muss sich dem deutlich dominierenden Neubau unterordnen. Dabei ergibt sich im Nebeneinander durchaus reizvolle Blicke, aus der Bibliothek in die Flure vor den Seminarräumen und umgekehrt, was den Nutzern die Orientierung im Gebäude sehr vereinfacht.
Mit der einfachen Konstruktion und schlüssigen Bauweise des Bibliotheksneubaus erarbeitete sich Böhm einen Spielraum, der es ihm an anderer Stelle erlaubte, auf verführerische Weise mehrdeutig zu bleiben. Er spielte mit dem Thema der Mehrschichtigkeit, um gleichzeitig zu verhüllen und zu entblößen. Dies jedoch nicht nur in der Fassadenebene, wo unter der Schlämme Ziegel und Baugeschichte oszillieren, sondern auch im Maßstab der Baukörper, wo Innen nie nur Innen, sondern auch Außen ist und umgekehrt. Was anderes sollte man den studierenden Philosophen wünschen, als ein solches Gebäude voller Tiefe.
Uta Winterhager